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Wilfried Graf - Zur ideologischen Krise der Grünen: Plädoyer für eine Rückkehr zur Politischen Ökologie
Mir scheint, dass die Grünen oft zwischen zwei Orientierungen schwanken: einerseits eine opportunistische „Realpolitik“, die die Grundwerte aus den Augen verliert, andrerseits eine sektiererische, moralistische Grundwerte-Orientierung, die keine realistische Politikentwicklung ermöglicht.
Andreas Novy hat es unlängst auf den Punkt gebracht:
„Die Kunst der Politik besteht in guter Analyse und dem Abwägen von Optionen vor de m Hintergrund ethischer Überzeugungen. Werte geben dabei Orientierung für die Verbindung von utopischem Anspruch und konkreter politischer Umsetzung. ...
Doch die schritt- und ansatzweise Umsetzung grüner Ziele braucht die Unterstützung sozialer Bewegungen, engagierter BürgerInnen und kompetenter Fachleute. Diese Gruppierungen sind wichtige BündnispartnerInnen, mit denen besonders intensiv zusammengearbeitet werden muss, diskutiert werden muss, wie mit der Diskrepanz zwischen Sein und Sollen umgegangen wird.“
Um in den nächsten Jahren – über die kommenden Wahlen hinaus - erfolgreich zu sein, brauchen die Grünen also mehr als ihre Grundwerte, die zur ethischen Selbstorientierung dienen – sie brauchen eine gute politische Analyse, die über die eigene Partei und die Tagespolitik hinausweist und eine historisch-konkrete Vision für Österreich und Europa in Hinblick auf die großen Widersprüche der Gegenwart erlaubt. Und sie brauchen einen Dialog mit sozialen Bewegungen, engagierten BürgerInnen und kompetenten Fachleuten, um konkrete Utopien, realistische Strategien und pragmatische Taktik zusammen zu denken.
Für beides braucht es aber m.E. auch und vor allem einen philosophischen und theoretischen Denkrahmen. Hier kann man aber mehrere Orientierungen unterscheiden, die alle auch bei den österreichischen Grünen eine Rolle spielen, etwa die system-wissenschaftliche Ökologie, die (post-)marxistische Ökologie, die "personalistischen", wert-konservativen Ansätze wie Linkskatholizismus, Menschenrechtsbewegung, Konstitutionalismus – und nicht zuletzt auch den integrativen, komplexen Ansatz der Politischen Ökologie, an den hier erinnert werden soll.
1. Eine Erinnerung an grüne Programmdebatten
Was könnte jemand, der vor mehr als 20 Jahren - zwischen 1994 und 2001 - versucht hat, die Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms der Grünen zu koordinieren – und schließlich daran gescheitert ist, zu einer Debatte über die aktuelle Krise dieser Partei beitragen? Vielleicht die Erinnerung daran, dass in diesen Jahren bereits auf vielfältige Weise versucht wurde, einen philosophisch-theoretischen Denkrahmen für grüne Politik zu erarbeiten und zu diskutieren, und zwar nicht nur in der GBW, wo es heute wieder geschieht, sondern auch in der Partei.
Im ersten Parteiprogramm der Grünen 1990 wurde Ökologie von der ersten Programmkoordinatorin der Grünen Sonja Puntscher-Riekman vor allem ästhetisch definiert:
„Wir waren, wenn man so will, eine konservative Opposition gegen die Zerstörung durch Verwertungsinteressen des Kapitals, aber nicht nur, festgemacht an der Schönheit der Dinge, deren alltägliche Zerstörung auch durch Stadtplanung und Architektur wir beklagten. Die Kritik an unserem Entwurf, den ich gemeinsam mit Johannes Voggenhuber verfasst hatte, war heftig. Das ging bis zum Vorwurf des Faschismus mit dem Argument: Nur Faschisten und Nazis hätten die ästhetische Frage im Zusammenhang mit der Natur aufs Tapet gebracht. Für mich war es ein Versuch, die Frage zu beantworten: Worin gründet die Grüne Bewegung philosophisch? Im Nachhinein betrachtet war es ein illusorischer Versuch.“
In der einige Jahre später wieder aufgenommenen Programmarbeit (1994 – 2001) versuchte ich als Programmkoordinator und später als Obmann der GBW gemeinsam mit Sebastian Reinfeldt, Karin Fischer und später Frieder Otto Wolf (Berlin) einen neuen Denkrahmen zu entwickeln, der die ideologische Vielfalt der grünen Bewegung anerkennen und zu einer integrativen „Politische Ökologie“ verknüpfen wollte.
Wir kooperierten dabei mit namhaften internationalen VordenkerInnen wie Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf, Alain Lipietz, Edgar Morin, Chantal Mouffe, Frieder Otto Wolf.
- Alain Lipietz, Grün. Die Zukunft der politischen Ökologie (Wien 1998);
- Edgar Morin, Heimatland Erde: Versuch über planetarische Politik (Wien 1999);
und publizierte das Buch zur Programm-Sommerakademie 2000 „Neoliberalismus – Militarismus – Rechtsextremismus. Die Gewalt des Zusammenhangs“ (Wien 2001).
Letztlich gelang es uns nicht, in all diesen Jahren den Denkrahmen der Politischen Ökologie in einem neuen Grundsatzprogramm zu verankern. Am Bundeskongress am 18./19. Oktober 1997 in Graz wurde stattdessen ein moralistischer Grundwerte-Streit zwischen „Gewaltfreiheit“ und „Menschenrechte“ inszeniert, der medial eskalierte.
2. Der Grundwertestreit „Gewaltfreiheit“ versus „Menschenrechte“ auf dem Bundeskongress in Graz im Oktober 1997
Im dort vorgelegten Programmentwurf hieß es:
„Die grünen Grundwerte leiten sich nicht von einer großen Grundtheorie ab. Vielmehr stellt ein ökologischer Humanismus den abstrakten, starren Grundwerte-Hierarchien der anderen Parteien eine praktische Philosophie des Menschen und der Natur entgegen. Der grundlegende gedankliche Rahmen grüner Politik heißt Politische Ökologie. ...
Der Grundsatz der Gewaltfreiheit ist weiterhin das politische Prinzip grüner Friedenspolitik. Spätestens seit Auschwitz wissen wir jedoch, dass Gewaltfreiheit in ein Spannungsverhältnis zu anderen Grundwerten geraten kann, vor allem zu den Menschenrechten. Sie erhält nicht mehr den Charakter eines unumstößlichen Prinzips, sondern muss mit dem Prinzip der Verteidigung der Menschenwürde und der Durchsetzung der Menschenrechte in Bezug gesetzt werden. Eine Auslotung des Spannungsfelds zwischen diesen beiden Prinzipien auf Basis umfassender Friedenspolitik kann nur konkret erfolgen.“
(Zukunftsfähige Politik für das 21. Jahrhundert, Grundsatzprogramm der Grünen in Österreich, Entwurf - Version 4, 6. Oktober 1997)
In der Präsentation dieses Textes versuchte ich dies mit dem Denkrahmen der politischen Ökologie und im Besonderen mit einer „politischen Ökologie der Grundwerte“ zu begründen:
„Worum es uns vor allem geht, ist eine praktische Philosophie zu definieren, die erlaubt, konkrete politische Konflikte und Widersprüche in ihren vielfältigen Wechselverhältnissen zu akzeptieren und zu bearbeiten. Die Prinzipien und Grundwerte grüner Politik müssen dabei in ihren eigenen Spannungsfeldern mitreflektiert werden. Nachhaltigkeit und Demokratie, Gleichheit und Vielfalt, Emanzipation und Repräsentation, Gewaltfreiheit und Menschenrechte bilden dabei Spannungsfelder, die zueinander in Bezug gesetzt werden und erst dadurch die Entwicklung neuer Utopien, aber auch realitätstüchtiger und glaubwürdiger Visionen, Projekte und Strategien erlauben.“
(Wilfried Graf, „Verlieben wir uns nicht in die Macht!“ Präsentation des Entwurfs für ein Grundsatzprogramm der Grünen, Bundeskongress der Grünen in Graz, 18. Oktober 1997)
Auf einer Paneldiskussion warf mir Johannes Voggenhuber vor, im vorgelegten Programmentwurf den Grundwert Gewaltfreiheit zu relativieren – die Lehre aus Auschwitz könne nur Gewaltfreiheit sein. Im ORF-Bericht in „Zeit im Bild“ wurde daraus ein Generalangriff von Voggenhuber auf den damaligen Bundessprecher Chorherr inszeniert. In der Folge trat Chorherr als Bundessprecher zurück, in weiterer Folge begann die Ära Van der Bellens. Der Programmkongress scheiterte an der selben Krankheit der „Rechthaberei“, die Andreas Novy für 2017 konstatiert - an unserer Unfähigkeit, einen kreativen Dialog miteinander zu führen.
3. Die beiden Programmentwürfe am Bundeskongress in Linz im Juli 2001
Mit Van der Bellen als Bundesprecher wurde der vorerst gescheiterte Denkrahmen der Politischen Ökologie durch ein neues programmatisches Politikverständnis ersetzt - durch einen von Global 2000 geprägten systemwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs. Die Programmkoordination wurde ab 2000 neu besetzt, die Redaktion eines neuen Programmentwurfs wurde extern in Auftrag gegeben, schließlich wurde ein neuer Programmentwurf beim Bundeskongress am 7./8. Juli 2001 in Linz zur Beschlussfassung eingebracht.
Neben diesem offiziellen Programmentwurf wurde dann von mir, Karin Fischer und Frieder Otto Wolf ein alternativer Programmentwurf eingebracht, der noch einmal versuchte, das philosophisch-theoretische Anliegen unserer jahrelangen Programmarbeit seit 1994 zusammenzufassen:
„Mit diesem Grundsatzprogramm wollen die Grünen wieder konkrete Visionen, Leitbilder und Alternativen aufzeigen und erneut Antworten auf die wesentlichen Fragen geben: Für welche Ziele streiten wir und mit welchen Mitteln? Dabei schlagen wir einen komplexen Denkrahmen vor, der Ethik und Kritik (Grundwerte), Theorie und Analyse (Alternativen) sowie Strategie und Praxis (Initiativen) dialogisch miteinander verbindet.“
(Karin Fischer / Wilfried Graf / Frieder Otto Wolf, Entwurf für ein Grundsatzprogramm der österreichischen Grünen für den Bundeskongress am 7. / 8. Juli 2001 in Linz)
Im Standard wurden diese beiden Entwürfe für ein Grundsatzprogramm der Grünen sehr gegensätzlich charakterisiert: Der "offizielle" Entwurf sei "seltsam farblos und uninspiriert", der Alternativentwurf zwar "als historische und soziologische Analyse exzellent", als politische Handlungsanleitung hingegen "naiv bis illusionistisch"
(Sami Kobenter, derStandard, 22. Juni 2001).
Es mag teilweise naiv bis illusionistisch gewesen sein, und vielleicht könnte man von diesem Entwurf dasselbe sagen, was Sonja Puntscher-Riekmann? über den ersten Programmtext der Grünen sagt: „Im Nachhinein betrachtet war es ein illusorischer Versuch.“ Aber als wichtig und interessant – viel wichtiger als einzelne Textstellen, Leitideen und Forderungen - erscheint mir auch heute noch der philosophische und theoretische Denkrahmen der Politischen Ökologie:
„Tatsächlich konzentriert sich der Alternativentwurf auf die langfristigen Visionen der Grünen. Naiv bis illusionistisch können sie nur wirken, wenn sie als ein Wahl- oder Regierungsprogramm gelesen werden. In einem Grundsatzprogramm muss es hingegen - gerade in Hinblick auf ein rotgrünes Reformprojekt - um eigenständige Zielhorizonte gehen.
Der Alternativentwurf schlägt einen integrativen Denkrahmen vor, um die vielfältigen grünen Ansätze in einen Dialog zu bringen: die ökologische Systemwissenschaft, den Öko-Marxismus, die "personalistischen" Ansätze wie Linkskatholizismus, Menschenrechtsbewegung, Konstitutionalismus u. a.
Er plädiert deshalb für zwei große Zielhorizonte: zum einen für die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse und zum anderen dafür, dies auf ökologisch verträgliche Weise sicherzustellen. Ein solcher Gesellschaftsentwurf zielt nicht mehr nur auf nachhaltige Entwicklung, sondern auf eine radikal konzipierte Demokratie, ein ökologisches Zusammendenken von Selbstbestimmung und Solidarität auf allen gesellschaftspolitischen Ebenen.“
(Wilfried Graf, Grüne im Mainstream der Sozialdemokratie? derStandard, 5. Juli 2001)
Ausgehend davon skizzierte der alternative Programmentwurf vier konkrete Utopien als Leitideen eines grünen Gesellschaftsmodells:
- Erstens eine grüne Vision von Ökonomie und Entwicklung, bei der nicht mehr allein die Güterverteilung oder das Eigentum an Produktionsmitteln zur Debatte stehen, sondern Ausrichtung, Ziele und Struktur der industriellen Gesellschaft selbst.
- Zweitens eine grüne Vision von Sozialstaat und Arbeitsgesellschaft: Im Vordergrund steht nicht mehr der sozialpartnerschaftliche Kompromiss auf Basis der "Fabriksgesellschaft", sondern die Verwirklichung einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe der Frauen, der Arbeitslosen und Ausgeschlossenen durch eine Neuaufteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit.
- Drittens eine grüne Vision von Staat und Zivilgesellschaft in Österreich und Europa: Das Ziel einer bloßen Partizipation und Mitbestimmung wird ersetzt durch das Ziel gemeinsamer Selbstorganisation, das sich von einer ökologischen Wirtschaftsdemokratie über einen europäischen Föderalismus von unten bis zu einer globalen Bürgerschaft erstreckt.
- Viertens eine grüne Vision von Weltzivilisation und Friedenssicherung: Einer ungehemmten Globalisierung der Märkte und einer unipolaren Weltmilitärordnung wird ein lokal verankerter "sanfter Internationalismus" entgegengesetzt, der eigenständige Entwicklungsmodelle und friedenspolitische Vielfalt respektiert.
Daran anschließend skizzierte der Programmentwurf sechs strategische Initiativen:
- Nachhaltige Entwicklung:
Von der Quantität zur Qualität - Neuverteilung der Arbeit und soziale Existenzsicherung:
Von der Sozialpartnerschaft zur Überwindung der sozialen Spaltung - Selbstbestimmte und solidarische Gesellschaft:
Von der verwalteten Gesellschaft zur gesellschaftlichen Selbstorganisation - Umfassende Demokratisierung von der lokalen bis zur globalen Ebene:
Von der Partizipation zu Teilhabe und Selbstbestimmung - Emanzipierte Lebensentwürfe und feministische Geschlechterpolitik:
Von der bloßen Gleichstellungspolitik zu einem neuen Geschlechtervertrag - Überwindung von Krieg und kollektiver Gewalt mit friedlichen Mitteln:
Von der „Neuen Weltordnung“ zur „Globalisierung von unten“.
„Der offizielle Programmentwurf reduziert den grünen Gesellschaftsentwurf demgegenüber auf das Leitbild der "Nachhaltigkeit" und ersetzt damit die Vielfalt des grünen Projekts durch einen "ganzheitlichen" Öko-Systemismus. ... Ein solcher Gesellschaftsentwurf geht abgesehen vom Prinzip der Nachhaltigkeit über den gegenwärtigen sozialdemokratischen Mainstream kaum hinaus und ist insofern auch keine geeignete Weichenstellung für ein rotgrünes Reformprojekt.“
(Wilfried Graf, Grüne im Mainstream der Sozialdemokratie? derStandard, 5. Juli 2001)
4. Der programmatische Dialog über die Politische Ökologie wird weitergehen
„Schade“, so der Philosoph und Ex-MdEP der deutschen Grünen Frieder Otto Wolf, Mitautor des grünen Alternativentwurfs:
„Die österreichischen Grünen hatten die Gelegenheit, mit einem neuen Grundsatzprogramm eine vorwärtsweisende Position zu beziehen. In der notwendigen Neuorientierungsdebatte einer europäischen pluralen Linken hätten sich dann auch andere daran orientieren können. Sie haben es - angesichts einer durchaus mit Recht angesehenen Parteiführung, die lieber keine Risiken eingehen wollte - aber trotzdem vorgezogen, sich ein Grundsatzprogramm zu geben, das keine Ecken und Kanten aufweist.
Außer einem breit gefassten Ökosystem-Ansatz, der in der politischen Praxis wohl kaum eine Rolle spielen wird, geht es über den Mainstream nicht hinaus. Immerhin musste der Grundwert einer bloß partizipativen Demokratie fallen gelassen werden, während es schon früher gelang, auch „feministisch“ als Grundwert zu verankern. Und fast ein Viertel der Delegierten hatte den Mut, für eine Integration des Alternativentwurfs zu votieren, nachdem es kein kreatives Kompromissangebot seitens der Bundesführung gab. ...
Die Debatte über eine radikale, zeitgenössische Erneuerung der Linken, die der neuen Lage entspricht, ohne sich in ihrer prinzipiellen Kritik und Vision anzupassen, muss daher auch unabhängig von Parteiprogrammdebatten weitergehen - innerhalb der Grünen, aber auch mit anderen politischen Kräften.“
(Frieder Otto Wolf, Grünes Programm: Die Grundsatzdebatte wird weitergehen. derStandard, Juli 2001)
Dass diese Grundsatzdebatte auch unabhängig von Parteiprogrammdebatten weitergeht, zeigt sich zum Beispiel in der Ausgabe 40/2016 der Zeitschrift Politix zum Schwerpunkt „Politische Ökologie“.
„Es geht um nicht weniger als um die Realisierung von ,Heimat Erde‘ (vgl. Morin 1999)“ schreibt hier ein gewisser Josef Baum.
(Josef Baum, Der Kampf ums Wasser, Politix - Zeitschrift des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Wien, Schwerpunkt: Politische Ökologie. Nr. 40/2016)
Josef Baum war einer der stärksten Kritiker der Programmentwürfe 1997 und 2001, sein Bekenntnis zu Edgar Morin mehr als 15 Jahre später erstaunt und freut mich natürlich sehr.
Der Öko-Systemismus stößt heute – unter den neuen strategischen Vorzeichen nach dem Scheitern der großen Koalition – jedenfalls an eine Grenze. Das ist die eigentliche Ursache für die gegenwärtige ideologische Krise der Grünen. Heute ist es selbst für den kommenden Wahlkampf wichtig, die Grünen als „Linkspartei“ (Ingrid Felipe) wieder mehr links zu positionieren. Aber damit stellt sich auch die Frage erneut, wie die Grünen „links“ denn definieren wollen: durch einen moralisierenden Werte-Mix zwischen „Nachhaltigkeit“, „Menschenrechten“ und „Anti-FPÖ“ oder durch den Denkrahmen der Politische Ökologie.
Wilfried Graf ist Senior Researcher am Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Universität Klagenfurt und arbeitet als Forscher, Berater und Trainer in Konfliktgebieten. Von 1997 bis 2000 war er Obmann der Grünen Bildungswerkstatt.
[Auszug aus dem alternativen Programmentwurf Juli 2001]
Ökologie ist im letzten Jahrhundert eine Wissenschaft geworden, und in den letzten Jahrzehnten auch eine soziale und politische Wissenschaft, die letztlich auf eine integrative Humanwissenschaft zielt. Dass Ökologie wesentlich eine politische und kulturelle Angelegenheit ist, darüber gibt es heute keinen Zweifel mehr. Die Umwelt sind die anderen – und wir (eine jede, ein jeder von uns) sind die Umwelt der anderen. Ökologie ist soziale Beziehung, sie ist eine Form, in der sich die vielgestaltigen Beziehungen zwischen den Menschen manifestieren. Eine ökologisch reflektierte, kritische Gesellschaftstheorie kann als die wissenschaftliche Disziplin gesehen werden, in der die gesellschaftliche Beziehung jedes/jeder Einzelnen mit allen Anderen Form annimmt – wobei mit alle anderen hier alle anderen VerbraucherInnen, alle anderen VerschmutzerInnen, alle anderen Völker und auch die nachfolgenden Generationen gemeint sind.
Alles Leben auf dieser Erde existiert aber in komplexen Wirkungen und Rückwirkungen – nicht nur im Verhältnis Mensch - Natur, sondern auch im Verhältnis Mensch – Mensch und des Menschen zu seiner “inneren” Natur, das heißt zu unseren mehr oder weniger bewussten Wünschen und Antrieben. Der Gegenstand der wissenschaftlichen Ökologie ist die Dreiecksbeziehung zwischen den Individuen einer Spezies, der organisierten Tätigkeit dieser Spezies und der Umwelt dieser Tätigkeit. Im Fall der wissenschaftlichen Humanökologie: zwischen den Individuen der Spezies Mensch (Ökologie der Individuen), der sozio-ökonomischen Entwicklung der Menschen (Ökologie des Sozialen) sowie der Umwelt ihrer organisierten Tätigkeiten (Ökologie der Umwelt).
Die kritische Theorie und die Praxis der neuen sozialen Bewegungen seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hat gelernt, solche Spannungen, Widersprüche und Konflikte „zwischen jeder/jedem einzelnen und allen anderen” zu untersuchen und zu bearbeiten. Sie ermöglicht damit eine Wissenschaft und Politik, die nicht auf Reduktion, sondern auf eine Erhöhung von Komplexität zielt.
Im Unterschied zu den aus heutiger Sicht viel zu reduktionistischen, vor allem ökonomistischen Gesellschaftstheorien des Liberalismus oder Sozialismus kann eine grüne Gesellschaftstheorie deshalb nicht nur die Auswirkungen der Machtstrukturen auf die Interessen abstrakt gefasster sozialer Gruppen oder Klassen berücksichtigen, sondern auch die Nebenfolgen für die natürliche Umwelt sowie die Nebenfolgen für die subjektive Innenwelt der Individuen.
Ausgehend von unseren Grundwerten melden die Grünen aber auch neue „soziale“ Interessen an: das Interesse der anderen, nichtmenschlichen Lebewesen, das Interesse der nachfolgenden Generationen, das Interesse des Planeten Erde sowie das Interesse der gesamten Menschheit.
Im Sinne einer solchen ökologisch reflektierten Gesellschaftstheorie sind die Grünen einerseits materialistischer als die historische Linke: es geht um ein konkretes Bewusstsein der Komplexität und der Vielfalt des Realen, der Komplexität und der Vielfalt der Widersprüche. Andererseits sind die Grünen im Sinn einer ökologischen Moderne in einem radikalen Sinn liberaler als der real existierende Liberalismus, der unfähig bleibt, die sozialen Folgen, Konsequenzen und Bedingungen der Marktlogik unter den Bedingungen des Industrialismus und Kapitalismus zu verstehen. Für jedes Individuum oder jede Gruppe geht es darum, innerhalb des jeweils eigenen Wirkungsbereichs die Folgen der eigenen Handlungen zu sehen, ihre Konsequenzen und soweit möglich auch die Bedingungen zu meistern.
Gegenwärtig wächst wieder das Bewusstsein, dass die ökologische Frage nur gelöst werden kann, wenn sie als soziale Ökologie verstanden wird. Und umgekehrt: dass die soziale Frage nur gelöst werden kann, indem die ökologischen Zwänge beachtet werden.
[Auszug aus dem alternativen Programmentwurf Juli 2001]
Die Große Krise der 30er Jahre bildete den absoluten Höhepunkt einer Verselbständigung der potenziell verheerenden Kräfte der Marktwirtschaft – und führte zur „Große Transformation“ (Karl Polanyi), einem Versuch der Machtergreifung des Staats über den Markt in den 30er und 40er Jahren – einerseits in den totalitären Gestalten von Faschismus und Stalinismus, andererseits in demokratischer Gestalt der klassischen Sozialdemokratie. Der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg mündete dann in die weltweite Hegemonie eines „fordistischen“ Entwicklungsmodells, welches „im Westen“ dann 30 Jahre lang, von 1945 bis 1975, die Wirtschaftskrisen sowie die ökologischen Krisen zurückdrängen konnte. ...
Dagegen bildete sich - durchaus mit Resonanzen aus der Kritik der neuen sozialen Bewegungen - in den 1980er Jahren ein neoliberales Modell kapitalistischer Entwicklung, das gerade in der Rückkehr zur ungeregelten Konkurrenz den Ausweg aus der Krise suchte. ...
Es geht heute erneut um eine neue „Große Transformation“, eine Zähmung der offenen Diktatur des Marktes, wie sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts in dem sozialdemokratischen Teil der kapitalistischen Welt zumindest partiell und provisorisch möglich wurde. Heute geht es wieder darum, gegen den neoliberalen Mainstream die Fähigkeit zu einer politischen Regulierung zurückzuerobern und dem Markt und seiner „Technokratie“ ein umfassend angelegtes Modell der nachhaltigen Entwicklung aufzuerlegen, wie es der Kompromiss von Rio umrissen hat: „Ein Entwicklungsmodell, das die Befriedigung der Bedürfnisse einer Generation ermöglicht, angefangen mit ihren mittellosesten Angehörigen, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.“
Um dieses Ziel zu erreichen, geht es zunächst darum, die innerhalb der Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit liegenden Nutzungsmöglichkeiten unserer Umwelt zu erweitern, und mit dem Umbau von Konsumtions- und Lebensweisen, aber auch von Technologieentwicklung und Produktionsmodellen, eine ökologisch verträgliche, solidarisch, feministisch und demokratisch positive Neuorientierung in der Ausrichtung der Investitionsgüter auszulösen und damit durchaus auch eine Welle von neuen Investitionen in Gang zu setzen, welche die Dynamik des neuen Entwicklungsmodells tragen können. Das setzt voraus, dass die Grundlagen einer öffentlichen Regulationsweise durchgesetzt werden, die darauf abzielt, die ökonomischen Akteure dazu zu veranlassen, die ökologische Tragfähigkeit nicht zu missbrauchen, sie nicht zu überschreiten bzw. nach Möglichkeit sogar zu verbessern.
Zum Teil schon als Implikationen der entsprechenden lokalen und regionalen Umorientierungsprozesse, zum Teil als deren bewusste politische Ergänzung zeichnen sich heute schon weitere Grundlinien der neuen Großen Transformation ab:
- Ein planetarer Bürgersinn erkennt das gleiche Recht aller Menschen und aller Generationen auf eine gesunde Umwelt an.
- Internationale diplomatische Vereinbarungen legen gemeinsame Regeln fest, um den globalen ökonomischen Krisen vorzubeugen und schaffen durch Regeln für den Freihandel einen Rahmen, der die perversen Effekte des Wettbewerbs abwehrt, um es den nationalen oder kontinentalen Gesellschaften zu ermöglichen, ihre lokalen Krisen selbst zu bewältigen.
- Langlebige Produkte, eine modulare und dezentralisierte Produktion, die Entfaltung „immaterieller“ Zweige des Wirtschaftens, Energiesparen und die Nutzung erneuerbarer Energien sowie die systematische Wiederverwertung aller Ressourcen verringern die Abhängigkeit einer Entwicklung gesellschaftlichen Reichtums von der Inanspruchnahme endlicher ökologischer Ressourcen.
- Durch Arbeitszeitverkürzung, durch die Entwicklung von neuen kulturellen Dienstleistungen wird eine Entwicklung eingeleitet, die zur Vollbeschäftigung zurückführt.
- Durch neue Formen der ökonomischen Kooperation außerhalb der transnationalen Konkurrenz, durch selbstbestimmte Eigentätigkeiten außerhalb des Imperativs der „Selbstausbeutung“ entfalten sich die lokalen und regionalen Potenziale für eine Verbesserung der Lebensqualität und die Fähigkeit für eine grenz- und kulturübergreifende Solidarisierung von unten, bei gleichzeitiger Egalisierung der Beteiligung von Männern und Frauen an den gesellschaftlich notwendigen Arbeiten.
Grüne Politik tritt für das Konzept eines neuen, transnationalen „Gesellschaftsvertrags“ ein: Anstatt der Versuche des größten Teils der politischen Eliten in den ehemals „fordistischen“ Industrieländern, die Lohnabhängigen auf die Lage zurückzuwerfen, in der sie sich in den 30er Jahren befanden - Lohnverzicht, ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse, Massenerwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung - ist ein Bündnis aufzubauen, das die Gestaltung eines neuen Entwicklungsmodells mit der Befriedigung der ökologischen, solidarischen, feministischen und radikaldemokratischen Anforderungen eines nachhaltigen gesellschaftlichen Grundkonsenses verknüpft. ...
Die grüne Initiative zur Einleitung einer neuen GroßenTransformation zielt zunächst auf eine kulturelle Revolution, die deutlich macht, dass umwelt- und sozialschädliche Praktiken nicht zu einem „guten Leben“ gehören. Diese Umwälzung wird von den KonsumentInnen ausgehen, die Presse und die Medien ergreifen, in der Konkurrenz der Anbieter von Konsumgütern immer wichtiger werden und schließlich grenzübergreifend von den öffentlichen Gewalten aufgegriffen und verstärkt werden . Indem derart der Gedanke der „nachhaltigen Entwicklung“ als politische Zielsetzung ernsthaft auf die Tagesordnung gesetzt wird, wird es konkret möglich werden, die kulturelle Hegemonie des weltweit agierenden neoliberalen Entwicklungsmodells zu überwinden.