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Judith Schwentner - Über die Liebe in Zeiten der Panik
Ein kleiner Blick zurück: Am Ende des sogenannten langen 19. Jahrhunderts[1] ist Europa in Bewegung wie kaum je zuvor. Neue Technologien krempeln das Leben aller Menschen, das Aussehen aller Ortschaften, die Struktur aller gesellschaftlichen Organisationsformen und den Begriff der Arbeit völlig um. Im Verlust so gut wie aller vorstellbaren Grundlagen der Erklärung des gerade Geschehenden blühen skurillste Gedankenmodelle: Unsinnigkeiten wie die Welteislehre oder die Wurzelrassenlehre, beides zutiefst chauvinistische, wissenschaftsfeindliche und rassistische Denkansätze, stießen auf begeisterte Rezeption.
Angebliche Jahrtausende alte Weisheiten ließen ein Bild von einer in Unordnung geratenen Welt skizzieren, in der die Ordnung der Natur wieder hergestellt werden müsse. Welche Ordnung das sei, konnte nach Facon der Erörternden gestaltet sein. Es ist kein Zufall, dass bis heute wesentliche Vorstellungen etwa von Medizin, aber auch von Wirtschaft oder gesellschaftlicher Partizipation und Politik biologistischen Prinzipien folgen: Nur der Starke kommt durch, das Schwache wird zu Recht ausgemerzt (und ist selbst schuld an der eigenen Situation).
Und vor allem: Es muss so sein. Schuldhaft handelt nicht, wer Anderen Unglück verursacht, sondern wer es nicht tut und auf diese Weise das Prinzip der natürlichen Auslese missachtet. Und wir brauchen nicht so zu tun, als ob mit dem Ende des Nationalsozialismus auch das Ende dieser Weltsicht gekommen sei. Wir haben – das steht spätestens nach Srebrenica und Ruanda, aber eben auch nach Fukushima, nach ISIS und Lords Revolutionary Army oder nach Bhopal oder, dem Einsturz von Rana Plaza in Bangladesh fest – mit dem Nationalsozialismus zwar die brutalste Ausformung dieser Denkgrundsätze besiegt, aber sie bis heute nicht überwunden.
Der Sprung ins beginnende 21. Jahrhundert: Zynisch formuliert könnte man meinen, wir seien nicht viel weiter. Eine Welt, die Weltbilder und Lebensentwürfe ins Wanken bringt, ist anfällig für simplifizierende Lösungskonstruktionen: Ist es für die falsche Lebensweise oder eine falsche Moral der Anderen, die alles Elend des eigenen Lebens zu verantworten haben, so wissen andere, dass es eben gerade die Juden, die Muslime, die AmerikanerInnen, die AusländerInnen oder die Linken sind.
Tatsache ist aber: Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind so wenig Menschen wie heute verhungert. Noch nie in der Geschichte der Menschheit lebte auf diesem Planeten ein so kleiner Teil der Menschen in Armut. Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind so wenig Menschen an den Folgen von Kriegen gestorben.
Das ist kein Loblied auf den Kapitalismus, sondern Vertrauen in die Kreativität, die Lösungskompetenz und Kraft der Menschheit. Um das nicht misszuverstehen: Jedes Elend ist zu viel. Es ist ein von Geburt an zustehendes Grundrecht eines jeden Menschen auf diesem Planeten, ein Leben in Selbstbestimmung, in Würde und unter Teilhabe sowohl an allen gesellschaftlichen Möglichkeiten wie auch an allem gesellschaftlichen Reichtum zu führen. Dieser Mindestanspruch ist nicht verhandelbar.
Und es ist auch nicht so, dass wir uns auf einer Einbahnstraße bewegen, die zwangsläufig zum Glück aller Menschen führt. Die Gefahr des Scheiterns – des absoluten Scheiterns – ist immer da. Sie kann Atomkrieg heißen, Klimakatastrophe, oder auch im Sinne Günther Anders die prometheische Scham, die uns Menschen dazu bringt, unkritisch gegenüber den gesellschaftlichen Folgen technologischer Entwicklung zu werden, die wir nicht zu verstehen scheinen. Die fast unendliche Datenverfügbarkeit über Apps, Facebook und vor allem Twitter etwa, die Donald Trump den aussichtslos erscheinenden Sieg bei US-Wahlen ermöglicht hat, macht tatsächlich Angst.
Aber es ist eben auch so, dass die Menschheit über 12.000 Jahre hinweg unter Beweis gestellt hat, dass sie in der Lage ist, das Leben für immer mehr Menschen immer besser zu gestalten. Die Frage ist nur: Wie geht das?
Und da dürfen wir feststellen, dass wir unser Handeln auf esoterisches „Hoffen“, sondern auf Wissen aufbauen können. Wir wissen nämlich viel.
Wir wissen, dass praktisch alle Theorien der neoklassischen OkonomInnen falsch sind. In einer Welt, in der viel mehr produziert als benötigt wird, sind Lohnkosten oder die Kosten eines sozialen Sicherheitssystems keine Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft, sondern Voraussetzung für das Funktionieren hoch komplexer Strukturen. In einer Welt, in der die Einkommen der Erwerbstätigen weit hinter der Entwicklung der Unternehmensgewinne herhinken, stellt Arbeitszeitverkürzung keine Verteuerung der Arbeitskosten oder der Preise dar, sondern eine Erweiterung der Teilhabemöglichkeit und der Stärkung der Gesellschaft.
In einer Welt, in der Technologie die Produktivität von Menschen binnen kurzer Zeit vervielfachen kann), müssen wir die Frage stellen, ob die Besteuerung von Lohneinkommen noch sinnvoll ist. Es ist die Wertschöpfung durch Technologie, die die höchsten Zuwachsraten einerseits an persönlichem wie gesellschaftlichem Reichtum, andererseits an Steueraufkommen und damit gesellschaftlicher Leistungsfähigkeit sicherstellt. Wir wissen auch, dass Blasenbildung keine Fehlfunktionen von Finanzmärkten sind, sondern zwangsläufige Begleiterscheinung; dass es also zielführend ist, Kapitaltransfers und Vermögensbildung zu verteuern (also zu besteuern).
Wir wissen auch, dass neue Technologien sehr wahrscheinlich neue Jobs schaffen werden, aber dass ein nicht unbeträchtlicher Teil unserer Gesellschaft dabei durch die Finger schauen wird, wenn wir nicht gezielt gegensteuern. Und wir wissen auch, dass neue Jobs und neues Wissen nicht von Unternehmen, sondern allein durch öffentliche Investitionen geschaffen werden (auch wenn diese Jobs dann zum Teil bei privaten Unternehmen sind).
Die Welt verändert sich ständig, meinte Günther Anders bereits in den 1950ern. Es geht darum, sie auch ständig neu zu interpretieren. Nicht etwa zum Zweck der intellektuellen Befriedigung, sondern um als Menschheit auch für das Individuum spürbar mit dieser Veränderung Schritt zu halten. Handeln in Zeiten der Panik bedeutet also, sich mit Wissen und Bewusstsein Fragen zuzuwenden wie etwa:
· wenn wir wissen, dass in Österreich durchschnittlich 31 Stunden in der Woche bei stark steigenden Unternehmensgewinnen gearbeitet wird und gleichzeitig (zumindest) 400.000 Menschen ohne Erwerbsarbeit sind, dann müsste doch eine Arbeitszeitreduktion nicht viel mehr als eine leichte Rechenübung sein.
· Wenn wir wissen, dass die existenzielle Absicherung vor Armut für alle in Österreich nur etwa ein Prozent des BIP kostet, so kann es doch kein Problem sein, diese existenzielle Absicherung zu gewährleisten.
· Wenn wir wissen, dass die Umsetzung von Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe in einer Wissensgesellschaft vor allem einen Wissensboom und damit zusätzliche Ressourcen schafft, dann muss es doch eine leichte Übung sein, diese Maßnahmen in Bewegung zu setzen.
Warum das nicht passiert? Weil wir versuchen, die Welt von heute mit den falschen Rezepten von gestern – den Rezepten der Neoklassik, des Biologismus, des Malthusianismus und oftmals philosophischer Konzepte der Antike – zu erklären. Oder um es anders zu sagen: Als Gesellschaft wissen wir viel, als Individuen – und als PolitikerInnen – treffen wir unsere Entscheidungen jedoch vielfach ohne Bezug auf dieses Wissen, … und mit Wissens-Werkzeugen, die in Zeiten der Nanotechnologie einer Waffe aus dem Neolithikum entsprechen.
Gesellschaftlich relevantes Handeln auf Basis des Mindestanspruchs auf ein gutes Leben für alle in Zeiten der Panik ist Auflösung und Neuzusammensetzung gesellschaftlicher Denk- und Handlungsstrukturen.
Wir brauchen die Welt nicht neu zu erfinden: Wir brauchen keine monetäre Eisweltlehre und keine kulturalistische Wurzelrassenlehre im 21. Jahrhundert. Was wir brauchen, sind Menschen, die das selbstverständliche fordern und sich nicht mit neoklassischen, biologistischen und malthusianistischen Rezepten des 19. Jahrhunderts abspeisen lassen. Wir brauchen Menschen, die unser gesellschaftliches Wissen nutzen, um das Selbstverständliche zu verlangen.
[1] Das „lange 19. Jahrhundert“ ist eine historische Epoche in Europa, die in soziologischer und technologischer Sicht mit der französischen Revolution beginnt und mit dem ersten Weltkrieg endet.
Judith Schwentner ist Sozialsprecherin der Grünen im Parlament.
Lukas Wurz ist Referent für Sozialpolitik der Grünen im Parlament.