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Andreas Novy - Die brasilianische Lektion
Die Bolsa Familia hat als eine Art bedingungsloses Grundeinkom-men für Arme mit anderen Programmen dazu beigetragen, dass viele Millionen ehemals Marginalisierte nun – wenn auch in bescheidenem Ausmaß – am Massenkonsum teilhaben können.
Heute sehen wir jedoch, wie trügerisch die Hoffnung ist, mit staatlichen Geldtransfers allein ein gutes Leben führen zu können. Zwar gelang es der brasilianischen Sozialpolitik bis zur Wirtschaftskrise der letzten Jahre, aus Armen KonsumentInnen zu machen. Doch als in den vergangenen Jahren die gestiegene Kaufkraft dafür genutzt wurde, mit einem eigenen Auto endlich unabhängig sein zu können, verschärfte dies die ökologische Krise und machte vor allem Brasiliens Megastädte noch unwirtlicher.
Im Rückblick ist es tragisch, dass der Auslöser der Proteste 2013, welche die Regierung der Arbeiterpartei drei Jahre später zu Fall bringen sollten, die Forderung nach Freifahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln war; eine Forderung, die das Statussymbol eines nicht verallgemeinerbaren Lebensstils problematisierte – das Auto.
Eigene Busspuren, Ausbau von Radwegen und eine Stadt der kurzen Wege mit Platz für Naherholung und Nahversorgung sowie ein erstklassiges öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem sind die Eckpfeiler einer sozialökologischen Infrastruktur, die Lebensqualität für alle gewährleisten könnte.
Transferzahlungen statt nachhaltigem Wandel
Doch leider waren die Erfolge in Brasilien (wie auch anderswo) bezogen auf den Aufbau neuer Infrastrukturen deutlich bescheidener als in Bezug auf monetäre Umverteilung. Das hat mehrere Gründe:
Erstens gibt es kein objektiv definierbares gutes Leben, dies ist vielmehr immer kontextabhängig und politisch zu verhandeln.
Zweitens sind allzu viele ihrer RepräsentantInnen den vorherrschenden Kulturmustern verhaftet. Manche linke PolitikerInnen wollen nichts anderes als an ebendieser elitären und ausgrenzenden Kultur teilhaben – im Notfall auch mit Mitteln der Korruption.
Drittens schrecken Progressive allzu oft davor zurück, ihre Vorstellungen von einem guten Leben für alle auch gegen Widerstand beharrender, gegenwärtig privilegierter Gruppen durchzusetzen. Die Ausweitung des Massenkonsums durch monetäre Umverteilung ist häufig relativ konfliktfrei umsetzbar. Die ausgrenzende und autoritäre Grundstruktur bleibt dabei jedoch weitgehend gleich.
Infrastrukturen verkörpern Gesellschaftsvisionen
Zurück an der Macht stellen die reaktionären Kräfte in Brasilien seit 2016 durch Kürzungen bei öffentlichen Schulen und Spitälern die alten Hierarchien wieder her. Gleichzeitig werden ausgrenzende und hierarchisch strukturierte Institutionen und Infrastrukturen gestärkt – hoch subventionierte private Medienkonzerne, autofreundliche Verkehrsinfrastruktur, Privatschulen und Privatkrankenkassen.
So verfestigen sich Gesellschaftsstrukturen, in denen öffentliche Angebote nur in schlechter Qualität verfügbar sind und nur von denjenigen in Anspruch genommen werden, die sich nichts anderes leisten können.
Die linken VerfechterInnen des universellen Grundeinkommens hoffen auf eine transformative und solidarisierende Kraft. Das Beispiel Brasilien dient jedoch als Warnung: Geldtransfers können auch eine entsolidarisierende Wirkung haben und bestehende Ungleichheit und Ungerechtigkeit verstärken.
Andreas Novy ist Leiter des „Institute for Multi-Level Governance and Development“ an der Wirtschaftsuniversität Wien und Obmann der Grünen Bildungswerkstatt.